…passende Geschichten
Nachdem ich mich entschlossen hatte, mein kompositorisches Konzept nach den von mir definierten kompositorischen Standpunkten auszurichten, schrieb ich jedes Jahr ein Programm zu einem einzelnen Standpunkt, ohne es aber nach dem Standpunkt zu benennen. Ich hatte mir nur überlegt, wie jeder Standpunkt ungefähr klingen sollte und suchte dann jeweils „passende Geschichten“ dazu. Ich orientierte mich daran, abwechslungsreich zu sein und Überraschendes und Anregendes zu bieten, ganz nach der Art, in der ich auch mich selbst am liebsten unterhalten lasse.
…Wurzeln im Grundton
Zum Thema Tiefgründigkeit ging ich erst mal ganz einfach vom Bild des Baumes aus, der im Boden tief verwurzelt ist. Das Wurzeln im Grund lässt sich leicht adaptieren als Wurzeln im Grundton: also dadurch, in der Komposition einen Grundton zu etablieren und in Bezug dazu zu improvisieren. Statt eines statischen Grundtons verwendete ich als Grundlage auch rhythmische Patterns, die mit gleichbleibenden Harmonien kombiniert waren.
…Improvisieren
Das Improvisieren ist mein Eingangstor zur Komposition. Mozart, Beethoven, Bach alle waren auch große Improvisatoren. Insofern verstehe ich nicht, warum sich im 19. Jahrhundert die Tradition herausbildete, diese Bereiche streng zu trennen und dass die Improvisation in der Ausbildung von Berufsmusikern sehr lange, zum Teil bis heute, vernachlässigt und sogar verteufelt wurde.
…auf professioneller Basis
Da ich selber von klein auf ein großes Interesse an Improvisation hatte, nutzte ich jede Gelegenheit, die sich mir bot, um dazu zu lernen. Da es aber von klein auf nicht vermittelt wurde, war es gar nicht so einfach, sich diesen Bereich auf professioneller Basis anzueignen. Im pädagogischen Bereich gehört das Improvisieren mittlerweile zur gängigen Praxis, vielleicht schwierig für diejenigen, die im Zug ihrer Ausbildung den Zugang zum freien Spielen nie gefunden haben.
…offen für den Moment
Der Musiker, für den Improvisation ein rotes Tuch ist, ähnelt für mich einem Maler, der Bilder nicht selbst entwerfen, sondern nur bereits vorhandene Vorlagen aus- oder abmalen kann. Selbst für die Interpretation halte ich es für sinnvoll, passagenweise improvisatorisch und wandelbar zu gestalten, den Ausdruck variieren zu können. So bleibt man offen für den Moment.
…der Umgang mit Fehlern
Am wichtigsten finde ich aber den ermutigenden Satz: „In der Improvisation gibt es keine Fehler.“ Wer sich im Ton geirrt hat, kann seine Melodie doch zu einem guten Ende führen. Wichtig ist nur, auch einem auf den ersten Blick unpassenden Ton erst mal Zeit zu geben und dann zu entscheiden, ob er als interessantes Statement stehenbleiben darf und damit die Eigenschaft des falschen Tones verliert oder ob er nur ein Zwischenton werden soll, der als Vorhalt Spannung aufbaut und sich in der Folge in einen passenderen auflöst.
…Selbsterkenntnis
Improvisation ist die flüchtigste Erscheinungsform von Musik. Da ich Improvisation immer auch als Ausdruck von Befindlichkeit gesehen habe, erkannte ich, indem ich meine Improvisationen aufschrieb, die mir entsprechenden Klangfarben, erkannte ich mich selbst, fand ich eine persönliche Deutung für die Symbolik einzelner Töne und Rhythmen und auch meine eigenen Lieblings-Tonarten. Indem ich meine Improvisationen nachträglich ausarbeitete, vertiefte ich mein musikalisches Formen-Bewusstsein. Formenlehre war das Fach, das ich in der Ausbildung am allerwenigsten liebte. Vermutlich weil es in mir zu viele negative Assoziationen wachrief, die mich an vorgeschriebene Arbeit mit Schablonen erinnerte.
…Beliebigkeit begrenzen
Improvisation verhindert das Absinken in die Macht der Gewohnheit. Spontane Einfälle zuzulassen, entspricht der Unvorhersehbarkeit des Lebens. Allerdings empfinde ich es als notwendig, auch der Beliebigkeit des Zufalls ein gewisses Maß zu geben. So dass ein Gleichgewicht entsteht zwischen dem, was gerade sein soll und dem, was neu dazu kommt.
…sich Raum geben
Ich habe mich dafür entschieden, in meiner Arbeit mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln die Voraussetzungen für die Entwicklung eines positiven Ich-Gefühls künstlerisch zu umschreiben. Im Bewusstsein für die Kostbarkeit und Einmaligkeit jeder Seele ist es so wichtig, ihr Freiraum zu verschaffen, so dass ihr ein lebenslanges Wachstum möglich ist wie einem Baum. Als Kind habe ich es sehr genossen, dass mein Schlafzimmer einen Ausblick auf einen Baum bot, vor allem wenn ich krank war und der Blick auf den Baum meine einzige bildliche Unterhaltung war. Ich ging schon immer gern im Wald spazieren. Jeder Baum ist ein eigenständiger Charakter. Nach neuesten Forschungen sind auch Bäume soziale Wesen, die aufeinander Rücksicht nehmen und sich gegenseitig Platz zum Wachsen lassen.
…Metamorphosen
Zum Thema Baum fiel mir eine Episode aus Ovids Metamorphosen ein, die ich sehr liebe: Orpheus sitzt auf einer sonnigen Wiese und macht Musik. Da kommen die Bäume näher, um ihm besser lauschen zu können. So sitzt er nun im wohltuenden kühlenden Schatten.
…griechische Mythologie
Dies kombinierte ich mit Geschichten aus der griechischen Mythologie, in denen Bäume thematisiert werden. Die europäische Kultur ist undenkbar ohne die antiken Mythen. Sich mit diesen Mythen zu beschäftigen, übt bis heute für viele eine große Faszination aus. Jeder Baum hatte in der Antike Schutzpatron:innen. Schon in der Vorzeit galt der Baum als heilig und als Wohnsitz der Götter. Die Natur auszubeuten, wäre von daher undenkbar gewesen.
…die Ausbeutung beenden
Seit der Neuzeit hat in großem Umfang das rationale Denken das religiöse Empfinden verdrängt, ebenso wie den Sinn für natürliche Ganzheit. Die Natur immer weiter auszubeuten, hat ihre Ursache aber auch in der fehlenden Bereitschaft, die eigenen weiblichen Anteile wertschätzend zu behandeln und sich mit dem eigenen „ungeliebten Weiblichen“ zu beschäftigen. Die Ignoranz gegenüber „Mutter Natur“ ist letztlich auch eine Unkenntnis des eigenen Selbst. Unsolidarisches Handeln ist nicht zuletzt ein untauglicher Versuch, unverarbeiteten frühkindlichen Schmerz zu betäuben, denn wie Hans-Joachim Maaz schreibt, hätte kein Mensch Interesse daran, unsolidarisch zu handeln, „wenn er nicht selbst aus narzisstischer Kränkungswut auf einem Pulverfass sitzen würde.“
…innere Zufriedenheit
Anders als die Werbung es verspricht, wächst aus der sich kontinuierlich steigernden Sucht, finanziell das letzte aus Allem heraus zu holen und sich seine Umgebung durch geschickte Schachzüge zu unterwerfen, keine innere Zufriedenheit, sondern nur fortwährende Unruhe. Doch es werden Stimmen lauter nach einem gesellschaftlich dringend benötigten Gegenprogramm: der inneren Anbindung an sich selbst. Ich nenne diese innere Anbindung: in mir selbst verwurzelt zu sein. Damit meine ich: mir selbst von innen her zu entsprechen und damit die tief verankerte Anspannung des mir als Kind vermittelten Nichtsoseindürfens wie ich eigentlich bin zu lösen. Ist mir dies gelungen, habe ich es nicht mehr nötig, mich über andere zu erheben oder mich ihnen zu unterwerfen, um eine Illusion von Nähe zu erzeugen. Nur so gelingt Leben und Lebenlassen. Dies ist die beste Alternative zu der weit verbreiteten Lieblosigkeit sich selbst und anderen gegenüber.
…mein Konzept am Beispiel der CD Lauschende Bäume
Im musikalischen Bezug zu Griechenland arbeitete ich für dieses Programm mit den sogenannten Kirchentonarten, insbesondere mit dem orientalisch klingenden phrygisch und dem auch im Jazz beliebten dorisch. Im Mittelalter glaubte man, von der dorischen Tonart ginge alles aus, da sie mit SOL (Christus als die Sonne) verbunden ist. Tatsächlich gehen diese Tonarten auf Vorlagen aus der Antike zurück. Die lydische Tonart war Jupiter zugeordnet. Und auch bei den Musikinstrumenten glaubte man an überirdische Herkunft. So galt die Göttin Athene als Erfinderin des Flötenspiels. Neben einem Lied über den Olivenbaum in der für Griechenland typischen Taktart des 7/8 Takts, einem schrägen Walzer zu Ehren der unglücklichen Liebe von Kybele, die Attis, nachdem er vor ihr geflohen war, in eine Pinie verwandelte und einem Tenorflötensolo über die Erzählung von Kyparissos (Zypresse) entwickelte ich, Eichen, Tannen u. a. zugeordnet, zeitlich beliebig erweiterbare Melodien zu ausgesuchten Rhythmen eines Drumcomputers. Den Drumcomputer nahm ich mir zum Vorbild, um den Rückblick auf Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden. „Lauschende Bäume“ hat Bezug zu meinem emotionalen Standpunkt der Tiefgründigkeit, aber auch zu dem der Unbefangenheit und zu dem des Muts. Sogar Sehnsucht schwingt ein wenig mit. Ohnehin sind natürlich alle emotionalen Übergänge fließend. Emotionale Standpunkte zu vereinzeln, ist an sich ein Kunstgriff, der es aber ermöglicht, sie mit Blick in eine bestimmte Fühl- Richtung besser nachvollziehen und aus der Nähe jeweils von allen Seiten genauer beleuchten zu können. Jeder emotionale Standpunkt bringt eine besondere Stimmung mit. Mit dem Ausdruck atmosphärischer Stimmungen, geschrieben, gemalt oder mit Musik dargestellt, befasse ich mich mich schon, seit ich denken kann.
…Zitat
„Unsere Kindheit ist das Vorspiel zu unserem Leben, in dem eine große Melodie sich als Thema ankündigt. Wir leben zunächst traumhaft – die Melodie zittert in uns weiter. Und wenn dann das Leben kommt, soll diese Melodie wachsen, die anderen Motive unter sich zwingen, sich in ihrem ganzen Reichtum entfalten und zuletzt in ihrer gewaltigen Größe dastehen.“
(Albert Schweitzer, 2. 3. 1913, Predigt)
Empfehlung:
Karl Kerényi: Töchter der Sonne, Klett-Cotta Verlag, 1997
Kathrin Beddig