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Held:innenreise

…Heilung

In meiner Musik stelle ich dar, wie Gesellschaft sich anfühlen würde, wenn die weibliche Kraft gleichberechtigt neben der männlichen Kraft konstruktiv in sie integriert wäre. Maureen Murdock erklärt in einem Interview von 2005, was es in der Gesellschaft zu heilen gelte, sei die Spaltung von der eigenen weiblichen Seite, bei Männern und bei Frauen. „Die weibliche Wunde“ ist durch Traumatisierung entstanden und ihre Nicht-Heilung verursacht immer neue Traumatisierungen.

 

…Ausrichtung nach Idealen

Für mich diente die klassische Musik zur Ausrichtung auf ein über mich hinaus weisendes Ideal. Der Leitgedanke der Klassik ist das Reine als Richtlinie der Selbstformung. Das selbstständige Bemühen um eine konstruktive innere Haltung lässt sich weder gesetzlich noch ärztlich verordnen, bestenfalls politisch unterstützen und fördern. Selbstbestimmung setzt Selbstbesinnung voraus.

 

…Identität mit musikalischen Mitteln

Um Identität mit musikalischen Mitteln zu vervollständigen, durchbreche ich die Macht der Gewohnheiten. Kreativität wird gefesselt durch die Macht der Gewohnheiten. Als fortgesetzter Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung entfaltet sich Kreativität im Bewusstmachen der Substanzlosigkeit des Ego. Wenn wir das Ego der Gewohnheit verlieren, gewinnen wir mit dem  kreativen Selbst Veränderung und Offenheit.

 

…Musik, die berührt

„Kultur ist eine Transformation psychischer Energie“, schreibt C. G. Jung. Und der Musikwissenschaftler Heinrich Kaden: „Gefühls-Transfer wächst aus Menschenfreundlichkeit und Zuversicht anhand von Vorbild-Gefühlen.“ Ich glaube, damit meine Musik andere berühren kann, muss ich als Musikerin sowohl an überpersönliche Erfahrungen anknüpfen als auch persönliches Erleben in Klang umformen können. Bloch hat diesen Vorgang poetisch umschrieben mit dem Satz: „Musik sinkt in die Tiefe und ein Brunnen scheint zu reden.“

 

…emotionale Standpunkte

Es ist mir wichtig, Abstand zu nehmen einerseits von der in der Spätromantik beliebten exzessiven Hineinsteigerung in Gefühlszustände, andererseits von der bis heute weit verbreiteten seichten Gefühlsduselei. Ich bevorzuge daher die Formulierung, dass ich in meiner Musik nicht „Gefühlen“, sondern emotionalen Standpunkten Ausdruck verleihe. Für den gelungenen Vortrag fordert Johann Mattheson 1739 vom Musiker die Fähigkeit des Schauspielers, den Auftritt mit den passendsten „Gemüths-Bewegungen“ zu gestalten. Das Spiel ohne Leidenschaft sei wie ein Wagen ohne Räder.

 

…Gefühls-Masken

Im Theater wurden in der Antike Masken getragen. Diese Tradition greife ich auf, indem ich mir denke, jeder von mir ausgewählte emotionale Standpunkt sei als Seelenanteil meiner selbst wie eine Maske, die ich gedanklich auf- und absetzen könnte. So bleibe ich in Distanz und stelle zugleich eine Verbindung her, um das Ganze wie ein Gegenüber zu betrachten, mit seiner konstruktiven Schubkraft und den das Selbst im Übermaß gefährdenden Anteilen.

 

…Affekte

Jedem Tanzrhythmus wurde im 18. Jahrhundert entsprechend den Gepflogenheiten der Zeit ein bestimmter Affekt zugeordnet. So ist u. a. ein Rigaudon „ein tändelnder Schertz“, ein Marche „heldenmuthig“, eine Gavotta „jauchzende Freude“, eine Bourree stellt die Zufriedenheit dar. Auch diese Ideen gehen auf das antike Theater zurück. Damals glaubte man, dass z. B. das Zeigen von Heldenmut im Publikum den Heldenmut stärken würde, dass also der Besuch des Theaters positive sittliche Folgen hätte. Die antike Tragödie begann im Tanz. Viele Forscher sind sich einig: der Tanz hat großen therapeutischen Wert. An der barocken Idee, musikalische Elemente wie die Rhythmik von Tänzen symbolisch bestimmten Gefühlen zuzuordnen, setze ich an.

 

…Mein Konzept am Beispiel der CD Sternenwege

Sternenwege stellt in Kurzfassung vor, was meiner Arbeitsweise zugrunde liegt. Dieses Programm führe ich live in Begleitung von fünf verschiedenfarbigen Masken vor, die nacheinander neben mir auf der Bühne auf einem eigenen Ständer Platz nehmen, extra angeleuchtet. Ich bin mir sicher, dass es eine „Held:innenreise“ ist, sich selbst mit der eigenen Traumatisierung zu konfrontieren. Hierzu braucht es starke Begleiter wie Mut, Kampfgeist, die Sehnsucht nach Veränderung und den Glauben an eine Macht, die größer ist als wir selbst (Tiefgründigkeit). Nachdem es mit deren Hilfe gelingt, traumatische Altlasten zu verarbeiten, erreiche ich den Zustand der Unbefangenheit. Jede Station der Held:innenreise stelle ich mit einer bestimmten musikalischen Klangfarbe dar. 

 

…Entfremdung vom Wesentlichen

Unsere Zeit baut sich größtenteils nicht auf sakralen, sondern auf weltlichen Beziehungen auf. Bis heute wird vielen Jungen empfohlen, sich mehr über geistige denn über seelische Fähigkeiten zu definieren und Abgrenzung gegenüber sozialem Verhalten zu bevorzugen. Die nicht als gleichberechtigt angesehenen Frauen dagegen werden von den Wurzeln des Lebens im eigenen Sein oft abgeschnitten. Zwar erwerben sie als Mädchen traditionell oft höhere soziale Kompetenzen, finden sich jedoch nicht selten in sie herabsetzenden persönlichen Verbindungen wieder.

 

…Resonante Weltbezogenheit

Ich weiß, dass Musik unserer heutigen Gesellschaft, die geprägt ist von Fremdheit und der Entfremdung, nicht mehr als Resonator oder als Konditionierungsinstrument dienen kann, wie es in der Antike beabsichtigt und vielleicht noch möglich war. Heutzutage ist auch der Bereich der Musik vom Sein zum Haben übergegangen. Stattdessen wäre es entwicklungsfördernd, in der Musik und als Mensch eine von der Ausrichtung auf Geld, Ansehen und Konformität befreite resonante Weltbezogenheit zu erlangen.

 

…Musik als Resonator

Daher folge ich meinem Traum, dass tief empfundene Musik verbunden mit einer schöpferischen Einstellung und dem fortwährenden Bemühen, dem Wesentlichen Sorge zu tragen, bei denen, die empfänglich hierfür sind, dennoch Resonator sein und im eigenen Selbst wirksam werden kann, indem ich von mir ausgehend und über mich hinausgehend das innere Vorstellungsvermögen anderer inspiriere.

 

…Zitat

„Es gibt in der Welt einen einzigen Weg, auf welchem niemand gehen kann außer dir: wohin er führt? Frage nicht, gehe ihn!“ (Nietzsche)

 

…Empfehlung

Ute Clement: Frauen führen besser, Carl Auer Verlag 2022